4-stufiges (4-Tier)
System zur Bewertung
von Sequenzvarianten

Der rasante Anstieg an Sequenzierdaten aus gesunden und verschiedensten erkrankten Geweben verdeutlicht, dass es ein breites Spektrum zwischen klar krankheitsassoziierten, pathogenen Veränderungen und nicht-pathogenen Polymorphismen gibt. Verschiedene Fachgesellschaften haben daher für onkologische Fragestellungen Empfehlungen erarbeitet. Ab sofort arbeiten wir in der Molekulargenetik mit dem weltweit meistgenutzten 4-Klassensystem („4-Tier“ System), welches wir auf zentrale Fragestellungen in der hämatologischen Diagnostik abgestimmt haben. Dieses möchten wir Ihnen in diesem Artikel gerne vorstellen.

In den letzten Jahren haben Sequenzdaten, die uns sowohl aus erkrankten wie auch aus gesunden Geweben zur Verfügung stehen, deutlich zugenommen. Einer der Hauptgründe für diese Entwicklung ist die Einführung neuer Sequenziertechnologien, dem sogenannten Next-Generation-Sequencing (NGS), das es uns aktuell erlaubt, komplette menschliche Genome in wenigen Tagen zu sequenzieren. Die Vielzahl an Veränderungen, die im Rahmen dieser Entwicklung zwischen unterschiedlichen gesunden Individuen und – für uns von besonderem Interesse - zwischen gesundem und erkranktem Gewebe identifiziert wurden, stellt die Diagnostik bei der Klassifizierung dieser Veränderung vor große Herausforderungen.

Was unterscheidet „eindeutig pathogen” von „Polymorphismus”?

Sequenzveränderungen wurden klassischerweise in die Kategorien „Mutation” und „Polymorphismus
unterteilt, wobei lediglich erstere als relevant oder pathogen erachtet
wurde. Mittlerweile ist das Spektrum allerdings wesentlich breiter. Das
eindeutig pathogene Ende des Spektrums machen die Veränderungen aus,
die funktionell bestens charakterisiert sind und die beispielsweise
therapeutische oder auch diagnostische oder prognostische Konsequenzen
nach sich ziehen. Das andere Ende stellen eben jene Veränderungen dar,
die man als Polymorphismen bezeichnet und die nach derzeitigem
Wissensstand keine krankheitsauslösenden Funktionen aufweisen. Letztere
können in vielen Fällen über die Häufigkeit, mit der sie in der
Bevölkerung vorkommen, identifiziert werden.


Welche Veränderungen liegen zwischen diesen Extremen?

Eine Abstufung in der Bewertung wird dann nötig, wenn anstatt der typischen Mutation („hotspot”) in einem Gen, für die eine zielgerichtete Therapie existiert, eine andere Aminosäureposition betroffen ist. Als Therapie-Targets sollen hier stellvertretend die Veränderungen p.V600E im BRAF Gen oder auch p.V617F im JAK2 Gen genannt werden. Sind bei beiden Genen Positionen außerhalb der hotspots betroffen und sind diese funktionell bisher nicht charakterisiert, dann ist eine zielgerichtete Therapie nicht zwingend möglich und diese Veränderungen können nicht als eindeutig, sondern nur als „möglicherweise pathogen” bezeichnet werden.

Im Gegensatz zu den Genen, die durch hotspot Mutationen charakterisiert sind, sind andere durch Veränderungen über die komplette Gensequenz hinweg betroffen. Hier ist wiederum ein Abgleich mit vorhandenen Datenbanken wichtig, ggf. in Verbindung mit in silico Vorhersagen, um eine „eindeutig” oder nur „möglicherweise pathogen” Bewertung zu treffen.

Veränderungen, die in den bekannten Datenbanken oder auch der sehr großen MLL-internen Datenbank noch (nahezu) unbekannt sind und bei denen aufgrund der Mutationslast der Verdacht auf einen angeborenen Polymorphismus besteht, werden bestenfalls als Variante (unbekannter Signifikanz) klassifiziert. Eine Analyse von Normalgewebe (z. B. Mundschleimhaut, Fingernagel) bringt hier Aufschluss über die Herkunft der Veränderung (somatisch oder angeboren).

Angelehnt an das weltweit am meisten genutzte 4-Klassensystem (4-Tier) zur Bewertung von Sequenzvarianten1, hat das MLL nun auch ein 4-stufiges Bewertungssystem eingeführt. Dieses reicht von Tier 1 = eindeutig pathogen, über Tier 2 = möglicherweise pathogen, Tier 3 = Variante unbekannter Signifikanz, bis hin zu Tier 4 = Polymorphismus.


Literatur

1 Li MM et al. Standards and Guidelines for the Interpretation and Reporting of Sequence Variants in Cancer: A Joint Consensus Recommendation of the Association for Molecular Pathology, American Society of Clinical Oncology, and College of American Pathologists. J Mol Diagn 2017;19:4-23.

Der Autor

»Sie haben Fragen zum Artikel oder wünschen weitere Informationen? Schreiben Sie mir gerne eine E-Mail.«

Dr. rer. nat. Frank Dicker

Diplombiologe
Leitung Befundung

T: +49 89 99017-350